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Einer wie er fehlt heute

Im Land Sigmund Freuds blühte für Erwin Ringel nach dem zweiten Weltkrieg der Mechanismus der Verdrängung, wonach alles Unliebsame, Lästige und so manche Wahrheit über das eigene Leben möglichst weit weggeschoben wurden. Das Ergebnis war für ihn eine veritable Neurose, der die Mehrheit der Österreicher ausgeliefert war.

Die Neurotisierung beginnt damals schon in der Kindheit, denn „die Erziehungsziele des Österreichers sind Gehorsam, Höflichkeit, Sparsamkeit“ – und daraus leitet sich die Bereitschaft zu "devotem Dienen" und zum vorauseilenden Gehorsam ab, schrieb Ringel in seinem Buch „Die österreichische Seele“. Danach galt er einigen als „Nestbeschmutzer“, viele mochten ihn und erkannten sich selbst. Nicht von ungefähr wurde das Buch 200.000 mal verkauft.

Liebe, analysiert Ringel, ist in der damaligen Kindererziehung sekundär, und die Kinder dürfen bis lange nach dem Krieg keine Eigenexistenz führen, nicht "glücklich sein". Ehemalige Nazis unterrichten und prügeln noch in den sechziger Jahren an den Schulen, der Hass der Jungen gegen sie und gegen die autoritären Eltern darf nicht artikuliert werden und wird verdrängt, eine „Verdrängungsgesellschaft“ ist die Folge.

 

 Ringel und Thomas Bernhard

Manches bei Ringel liest sich wie eine Vorwegnahme der Themen von Thomas Bernhard. „Verstörung“, „Auslöschung“, „Der Ignorant und die Wahnsinnige“ oder „Der Untergeher“ könnten auch Buchtitel eines Psychiaters sein, sie sind der Verdrängung und dem seelischen Elend in der Nachkriegszeit gewidmet. Bernhard litt sein Leben lang unter der Kindheitserfahrung mit einer Mutter, die ihn ablehnte und ihm das auch deutlich zu verstehen gab. Er war ein Prototyp einer Persönlichkeit, die nicht „glücklich sein“ durfte.

Manches ist bei beiden, Ringel und Bernhard, übertrieben, vieles entspricht der Wahrheit. Vieles hat sich in den letzten dreißig oder vierzig Jahren gebessert, in der Erziehung, im gesellschaftlichen Klima. Und wäre Ringel nicht schon zu alt gewesen, hätte er sich vermutlich der Bewegung der 68er angeschlossen, die auch in Österreich gegen autoritäre, unterdrückerische und freiheitsfeindliche Strukturen kämpfte. In einer Zeit, in der das Bildungssystem, die Justiz, die Polizei und andere Bereiche noch von Nazis verseucht waren. Und in der die Menschen größte Schwierigkeiten hatten, Gefühle wie Freude oder Liebe ohne Komplexe auszuleben.

 

Für die Schwachen, gegen die Intoleranten

Ringel war ein sprachgewaltiger Anwalt der Armen, Schwachen und Entrechteten in der Gesellschaft und kämpfte noch in seinem letzten Lebensjahrzehnt vom Rollstuhl aus gegen Intoleranz, Rassenhass, Faschismus und Antisemitismus. Und er nahm sich kein Blatt vor den Mund und eckte an. Legendär sind Äußerungen wie diese: „Hugo Portisch ist ein großer Einebner – er ist der Harmonisierungsweltmeister. Er nimmt ein Thema zur Hand, und wenn er fertig ist, ist alles planiert und rosarot.“

Ringel mischte sich ein und wurde gehört. Ich erinnere mich an eine Veranstaltung, bei der der damalige Bundeskanzler Franz Vranitzky und Ringel am Podium saßen und diskutierten. Solche Ereignisse sind heute undenkbar.

Was würde Ringel zum Heute sagen? Zur Migration? Zum Fremdenhass? Vermutlich, dass in Sachen Empathie und soziales Mitgefühl ein riesiges Vakuum in Österreich besteht.

Meine Frau ist Kroatin, und wir haben viele Freunde und Bekannte, die aus den ex-jugoslawischen Ländern kommen. Nicht wenige leben zwanzig oder dreißig Jahre in Österreich, sind erfolgreich im Beruf und fühlen sich noch immer nicht angenommen von den Österreichern. Sie haben österreichische Kinder zu den Geburtstagen ihrer eigenen Kinder eingeladen und nie eine Gegeneinladung erhalten. Sie rennen gegen Mauern und resignieren. Wir kennen kluge junge Akademiker, die hier leben, hier studiert haben, die perfekt österreichisch sprechen und sich auf den Islam und die islamische Gemeinschaft rückbesinnen, weil sie in diesem Land keine Freunde haben. Sie wurden nicht aufgenommen und es zieht sie „Back to the Roots“. Es ist ein großer Schaden, wenn Integration von Integrationswilligen nicht stattfindet. Wenn wir aber zu vertrauten Nachbarn, deren Länder in wenigen Autostunden erreichbar sind, keine Nähe finden, wie soll es dann mit Menschen aus Asien oder Afrika gelingen?

 

Theatralisch bis zur Brutalität

Der Wiener Psychiater Felix de Mendelssohn hat 2009 in einem Interview in „Die Presse“ betont, (und der einige Jahre davor verstorbene Ringel hätte vermutlich zugestimmt), dass Mieselsucht (alles schlecht machen), verborgene Minderwertigkeitsgefühle und historische Verletzungen zum österreichischen Charakter gehören. Genauso verfügen Österreicher über „eine gewisse Einsicht in die Absurdität ihres Daseins. Darüber verfügt der Deutsche viel weniger und der Schweizer fast gar nicht. Um diese Fähigkeit gruppieren sich alle möglichen Symptome: positive wie der ungeheure Sinn für Theatralik und eine tiefgründige Ironie, aber auch negative wie Weinerlichkeit, Brutalität und Verschlagenheit“ (Mendelssohn). Auch der „Herr Karl“, mit seinem kleinbürgerlichen Opportunismus und Mitläufertum, lebt immer noch unter uns.

„So sind wir nicht“, hat Van der Bellen österreichische Auswüchse kommentiert, und das stimmt und muss doch infrage gestellt werden. Wie sind „wir“ aber wirklich? Die Gesellschaft ist in diesen Tagen gespalten, Politik verliert an Ansehen und konkurrierende ideologische „Blasen“ bekämpfen sich gegenseitig. Ein „wir“ ist nicht in Sicht.   

Wie man es dreht und wendet: Einen Erwin Ringel würden wir heute dringend brauchen.

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